Ich gehe einmal zum Du über, es scheint mir so, dass Du nichts dagegen hast. Mein Name ist Lasse …
4P|T@xtchef hat geschrieben:Wenn ich nur die Blumen in meinem Garten mag, dann liebe ich den Besitz, nicht die Schönheit der Blumen - denn die beim Nachbarn sehen einfach immer scheiße aus. Oder auf höherer Ebene: Ich meine die nationale, religiöse oder moralische Beschränkung, wenn ein russischer, christlicher oder heterosexueller Kritiker den Wert eines tschetschenischen, islamischen oder homosexuellen Kunstwerks nicht anerkennen kann.
Das ist eine merkwürdige und trivial vereinfachte Analogie, die vielleicht nur auf Menschen zutrifft, die vollkommen mit Vorurteilen bepackt ihre Welt durchblicken. Ich glaube, dass unsere eklatante Uneinigkeit darin begründet ist, dass wir beide bei Kritik vollkommen andere Verfahren und Ergebnisse erwarten. Vielleicht sollten wir erst einmal da auf einen Nenner kommen, um in dieser Sache weiterzukommen. Es scheint mir nämlich so zu sein, dass Du der Ansicht bist, dass das Ergebnis einer Kritik so etwas wie Lob oder Tadel des Gesamtwerkes ist. Und richtig: es gab und gibt noch vereinzelt solche Positionen, doch herrschen sie zumindest in der Kunstgeschichte, von welcher Disziplin aus ich die Frage betrachte, nicht mehr vor (dies ist kein Argument dagegen, das weiß ich).
Von meiner Warte aus muss Kritik etwas ganz anderes leisten. Sie soll dem Künstler nicht auf die Schulter klopfen und sagen: „Mensch, das ist aber ein schönes Ding, was Du da erschaffen hast!“. Im Gegenteil, es interessiert meines Erachtens überhaupt nicht, dass etwas für schön oder hässlich empfunden wird, nein, es geht nur darum, dass es, wie auch immer verdient oder bloß zum Spaße, das Prädikat „Kunst“ trägt. Was fängt man nun als Kritiker, wenn es nicht mehr um den bloßen ästhetischen Eindruck gehen soll, mit einem Werk an, was bleibt darüber überhaupt noch zu sagen übrig? Das sind wenige, aber in meinen Augen sehr bedeutsame Dinge. Es sind Handwerk, Erfindung – auch in Beziehung zu bisheriger Tradition – und letztlich Aussage. Ersteres ist das bloße Wie: ist der Pinselschwung ungelenk, was macht überhaupt das Mikrofon da oben am Bildrand oder sehen die Texturen verwaschen aus? Zweiteres hat schon mehr mit der besonderen Individualleistung eines Künstlers zu tun: ist die Komposition gelungen, entwirft das Drehbuch eine packende Grundhandlung oder ist das interaktive Erlebnis dramaturgisch gut gelenkt? Und gibt es in diesen Hinsichten so etwas wie eine neuartige, eigenständige künstlerische Erfindung oder Handschrift? Das Letzte ist das Warum des Gesamtwerkes, nicht nur, warum es ausgeführt wurde – da würden wir wohl in den meisten Fällen die Antwort „aus Einkommensgründen“ erhalten – sondern eben, was das Werk deutlich oder versteckt sagen will: ist dieses venezianische Gemälde eine Darstellung des Herrschaftsanspruchs der Signoria auf das italienische Festland, bestätigt „Rambo 2“ das stereotypisierte Bild des Kommunismus oder legitimiert „Day oft he Tentacle“ das Einfrieren von Hamstern in Tiefkühltruhen :wink:?
Das Ergebnis all dieser Aspekte ist analytischer Natur und hat neben der Erfahrung in der Bildbeschreibung und –ausdeutung, also den Fertigkeiten, im Bestfall wenig mit der individuellen Position des Kritikers zu tun. Ich sage „im Bestfall“, weil sich Ansichten zu weltanschaulichen Fragen sicherlich auch auf die Interpretationsrichtung auswirken, die ein Kritiker einschlägt. Doch ändert das, wieder im Bestfall – also dem eines Kritikers, der seine Vorurteile nicht vor sich zur Schau trägt -, überhaupt rein gar nichts an dem, was er zu den anderen Punkten zu sagen hatte. Natürlich kann ein Kritiker auch speziell zu der Aussage eines Werkes Bezug nehmen, sie thematisieren und deren Fragwürdigkeit aufwerfen, wenn es sich anbietet. Das muss nicht darin enden, dass er überideologisierte Phrasen drischt, sondern sich wie ein aufgeklärter Mensch argumentativ zu komplexen Grundfragen der Gesellschaft äußert. Nicht unbedingt erwünscht mag das sein, weil man, aus welchem Grunde auch immer, Textsorten gern sauber voneinander trennt, aber es scheint mir vollkommen legitim zu sein.
All das, was ich hier angesprochen habe, waren Teilaspekte eines Gesamtwerkes, die nach und nach durchforstet, verglichen werden und sich in eine gewisse ungenaue Ordnung stellen. Es gibt wohl viele Punkte, in denen wir übereinstimmen und viele kleine - einen meines Erachtens besonders wichtigen (das gälte es auszudiskutieren) - in denen wir uns uneinig sind, aber letztlich ist es anscheinend die Frage, was überhaupt am Ende unterm Strich bei der ganzen Plackerei herauskommen sollte.
Und, wie ich es am Anfang schon bemerkte, scheint es mir, dass Du es statt der nüchternen Kritik (über deren Begründung wir natürlich ebenfalls sprechen müssten) vorziehst, ein Spiel zwischen die Pole gut und schlecht zu zerren. Das ist vollkommen verständlich, wenn man Deinen Auftrag ansieht. Du willst, das unterstelle ich einmal, als Teil der Branche Kaufempfehlungen aussprechen oder vor einem Produkt warnen, dass das Geld nicht wert sein könnte, das man dafür an der Kasse bezahlt. Was bewertet wird, ist persönliches Spielerlebnis – also Spaßerfahrung im Vergleich mit zuvor gemachter, das Regelwerk im Verbund mit Handwerk und Erfindung – und dies wird auf einen zumindest virtuell oder auch in Form einer Prozentzahl (Du sprachst ja bereits die Grenzwertigkeit solcher Symbolbeigebung an) klar vorhandenen Maßstab aufgetragen. Ein Spiel steht hier nicht für sich, sein Wert ist nur in Konkurrenz zu anderen weiteren Spielen erfassbar. Würde hier natürlich ein unbequemer Buchhalter die Maßverhältnisse, die, wie auch immer, zustande gekommen sind, durch seine willkürliche Ansicht zu einem Teilaspekt des Gesamtwerkes – hier die moralisch oder ideologisch fragwürdige Aussage - verändern, so wäre das sicherlich ein Grund zur Besorgnis.
Ich glaube jedoch nicht, dass sich Kunst nach der Art einer Inventarliste nach Werten geordnet führen lässt (was es wieder genauer auszudiskutieren hieße). Es ist nicht nur die vorspiegelnd objektive Prozentgebung, sondern überhaupt die Aufrechterhaltung eines absoluten Maßstabs, an dem die Werke sich eintragen lassen – was letztlich auf dasselbe hinausläuft -, welches Kunst in falsches Licht rückt und wie klare Werte aussehen lässt. Ein Werk ist weder eins noch null, weder vierzehnkommafünf noch dreitausendsechs, es will vollkommen anders betrachtet werden. Es ist gewissermaßen nahezu wertlos in der Welt unter anderen Gegenständen und wertvoll nur in der Bezugnahme des Menschen auf ebenjenes.
Wenn also die klare Abweisung des ideologischen Erbgutes keine Herabstufung des Werkes mehr bedeutet, weil es als Gesamtwerk gar keinen Wert ohne den Menschen hat, der Gefallen am Wohlgefallen hat, den das Werk auslöst, dann beschränkt sich doch niemand, wenn er sich intensiv mit der Aussage eines Spiels auseinandersetzt. Es sind lediglich wichtige Teilaspekte, auf die eingegangen wird. Und über die Wichtigkeit, gerade diese an die vordere Stelle in der Beschäftigung mit Kunst zu setzen, habe ich mich ja bereits ausführlich ausgelassen. Es hat wohl viel mit der Stellung der Journaille, der Deutungshoheit innerhalb einer Gesellschaft und dem Erzeugen von Sehgewohnheiten zu tun. Darüber gilt es wohl am ehesten zu debattieren.
4P|T@xtchef hat geschrieben:Ich widerspreche, vor allem hinsichtlich der Spiele, denn sie haben zu 95% null Intention abseits der fiktiven Unterhaltung, aber auch hinsichtlich der Literatur. Beim Theater mag das vielleicht stimmen.
Aber es geht bei Spielen um viel mehr als Bühnenbild & Co: Das Phänomen der Immersion, des Hineinziehens und Aufgehens in einer virtuellen Welt, kann entscheidend von der Art der Realisierung geprägt werden. Nur wenige grafisch minimalistische Welten können dennoch das Wesentliche, nämlich den Spielspaß, übertragen: Pac-Man, Tetris, vielleicht Darwinia. Aber die großen Epen wie Shadow of the Colossus oder Bioshock sind als Kunstwerke nicht ohne ihre wirkmächtige Präsentation denkbar. Das, was bei einem Theaterstück nur Gerüst sein man, gehört hier zur Seele.
Dass einem Schöpfer von Kunst nicht immer klar vor Augen schwebt, was er mit seinem Werk bezwecken will, heißt ja nicht, dass es damit leer und kontextfrei vor sich her schweben würde. Es steht auch immer in zeitlicher Angrenzung zu der reellen Welt vor dem Monitor oder dem Bilderrahmen. Zudem sind bestimmte Bildinhalte selbst innerhalb einer Zeit bedeutungsgeladen, sie haben eine Geschichte. Das ist, was ich in derselben Diskussion an anderer Stelle in diesem Forum mit „ein Bild trägt tausend Jahre“ ausdrücken wollte. Natürlich muss es merkwürdig vorkommen, einem Künstler vorzuwerfen, seiner Zeit gemäß zu handeln. Aber wie ich schon weiter oben ausdrückte, ist der Künstler manchmal einfach vollkommen unwichtig fernab von seiner entsprechenden Erfindungsgabe.
Und Du hast natürlich recht, wenn Du bemerkst, dass bei vielen Kunstwerken die Art und Weise der Ausführung eine Aussage unterstreichen kann oder selbst ebenjene ist. Insgesamt sind natürlich alle bildhaften Künste nicht ohne ihre Darstellung zu denken. Aber was ist denn ein bloßes Bild ohne Aussage? Was ist Caspar David Friedrichs „Wanderer über dem Nebelmeer“ ohne die Melancholie vor der Welt und die Sehnsucht nach ebenselbiger in der Ferne („Shadow of the Colossus“ stößt in dieselbe Richtung vor)? Was sollen wir mit der bloßen Anschauung eines Sinneseindrucks wollen? Ich bin mir sicher, dass Du das nicht so gemeint hast, nur hast Du es in einer Weise ausgedrückt, dass es mir so erscheinen musste. Ich bin froh, dass wir uns immer weiter an das überhaupt Gemeinte annähern. Lass mich nur noch sagen, dass selbst das, was das Bild in uns auslöst in einer ganz bestimmten Hinsicht Aussage ist. Ein Bild ist für uns nie nur ein Bild.
4P|T@xtchef hat geschrieben:Was interessiert mich die Aussage eines Bioshock, wenn es grandios inszeniert wird? Spricht da überhaupt jemand, der Spaß am Spiel hat?
Es soll doch beides interessieren! Natürlich soll Dir das Erlebnis gefallen, aber gleichzeitig gibt es doch immernoch die Ebene, auf der man fragen kann, was das alles bedeutet und in welchem Zusammenhang es historisch und gesellschaftlich steht. Und zu Deiner letzten Frage ein ganz klares Ja. Es muss wohl so geschienen haben, dass ich das Wohlgefallen des Spielerlebnisses nicht zu schätzen weiß. Seit mich mein Vater an den C64 setzte, bin ich dem Spielen anheim gefallen. Mehr als es mir in manchen Lebenslagen lieb ist.
4P|T@xtchef hat geschrieben:Darf ich fragen, ob du Spiele überhaupt in den Bereich Kunst & Kultur einordnest? Wenn ja, dann MUSS ästhetisches Interesse auch eine Sache der Kritik sein! Es geht darum, warum etwas persönlich wohlgefällt! Jede Kritik, und da schließe ich mich Baudelaire und Ranicky an, muss persönlich und leidenschaftlich sein!
Computerspiele sind künstlich und sie sind künstlerisch, wobei ich beides gar nicht so stark voneinander trennen würde. Sie erfüllen mein Kriterium dessen, was Kunst ist, obgleich ihnen die gesellschaftliche Bestätigung als Kunstform fehlt, die ansonsten doch so stark bestimmt, was wir öffentlich als Kunst wahrnehmen. Ich würde es als eine Kunst im Kommen bezeichnen.
Das, was ich das bloße ästhetische Interesse nenne, ist die Bezeichnung eines Gegenstandes unter ästhetischen Gesichtspunkten, also als Gegenstand, der potentiell von uns vollkommen subjektiv als schön oder unschön bewertet wird. Man kann sicher versuchen, gewisse Formprinzipien mit der Zuschreibungstradition zu vergleichen, aber dennoch sind solche Prinzipien nicht das Warum des Schön-Findens. Auch können wir über die spezielle Form des betreffenden Gegenstands sprechen, doch sprechen wir dann nicht unbedingt darüber, was den Gegenstand schön macht. Bloßes Gefallen scheint mir nicht begründbar. Und gerade da es nicht begründbar scheint, ist es auch kein Gegenstand einer Debatte, sondern wenn wir etwas schön nennen, hat es eher mit einem Plaudern über unsere ästhetischen Neigungen zu tun. Das wollte ich damit ausdrücken.
Eine Kritik kann auch gern leidenschaftlich sein, doch darf sie meines Erachtens vor lauter Gestus nicht das vergessen, worum es geht. Das Kunstwerk und seine Bedeutung.
Da ich jetzt leider aufbrechen muss, werde ich meine Ausführungen an dieser Stelle beenden. Zu Deinen anderen Punkten komme ich später, vielleicht hat sich auch schon einiges davon geklärt …