Spiegel-Kolumne hat geschrieben:Keine Alternative zum Helfen
Etwas hat sich dabei möglicherweise dauerhaft umgedreht: Die Bürger zeigen einen Realitätssinn, den sie auch von der Politik erwarten könnten: Diese Situation wird bleiben, und es ist wohl kaum jemand derjenigen, die den Flüchtlingen helfen, so naiv zu glauben, dass es nicht massive Probleme geben wird, wenn diese spätsommerliche Welle der Solidarität vorbei ist.
Das wäre ja zum Beispiel der Vorwurf derjenigen, die meinen, es gehe den Menschen, die helfen, um schnelle Selbstbestätigung, das gute Gefühl, dass man etwas getan habe, sie seien verblendet, wenn sie nicht sehen, was es bedeutet, traumatisierte Flüchtlinge aufzunehmen, Wertediskussionen, Freiheitsrechte, vielleicht Extremismus.
Aber naiv sind dabei doch die anderen, die glauben, es gebe eine Alternative zum Helfen, und die nicht sehen, wie ihr negatives Menschenbild nicht von Realitätssinn zeugt, sondern im Gegenteil die Flucht vor der Realität bedeutet: Wer vom IS bedroht ist oder im Kosovo keine Perspektive sieht, wird kommen, es geht nur darum, das menschlich zu gestalten und nicht das Wesen dieser Gesellschaft zu verraten.
Man könnte es auch so sagen: Der Möglichkeitssinn vieler Bürger wird um so deutlicher durch das Abwarten der Politik. Die Gewichte haben sich damit verschoben - eigentlich, das war das Klischee, waren sie bisher andersherum verteilt: Hier die abwartenden Bürger, dort die handelnden Politiker.
Versagen vor der Gegenwart
Was sich nun aber zeigt, ist vor allem eine große Ungleichzeitigkeit: Während die einen darüber diskutieren, dass man nicht "allen" Asyl geben könne, was gar nicht die Frage ist, und dabei einen Politikbegriff verwenden, der die Ursache für Elend von der Folge des Elends trennt, sind die anderen schon längst dabei, ein Einwanderungsgesetz der praktisch Handelnden zu entwerfen.
Und wenn sich etwa die CDU weigert, über ein fortschrittliches Gesetz zu reden, welches das Asylrecht, das aus einer sehr spezifischen Erfahrung des 20. Jahrhunderts entstanden ist, durch eine Antwort auf das ergänzt, was Europa im 21. Jahrhundert erwartet und was es leisten muss - dann ist das ein Versagen vor der Gegenwart.
Zu lange haben Politiker von "Wirtschaftsflüchtlingen" gesprochen, was der feinere Ausdruck für "Schmarotzer" ist und das gleiche Denken, sie haben sich an diese sehr künstliche Trennung geklammert, weil sie ihnen half, ihre Handlungsfähigkeit zu simulieren - das Gesellschaftsbild, das sie dabei entwarfen, und vor allem das Menschenbild war eines des Verdachts, des Misstrauens und der Ausgrenzung.
Abgesehen davon: Armut ist immer auch politisch begründet, politisch beschaffen, oft genug politisch gewollt. Ein Armutsflüchtling ist ein Flüchtling wie andere auch.
Elend und Not haben immer das gleiche Gesicht
Andere Länder haben verstanden, wie sehr eine Gesellschaft davon profitiert, dass sie sich als offen entwirft, dass sie den Willen der Menschen ernst nimmt, die ankommen und für sich und ihre Kinder ein besseres Leben suchen und dafür Risiken auf sich nehmen, vor denen man eigentlich nur Respekt haben kann.
Es ist der Kern dieser Gesellschaften, dass sie aus Bürgern bestehen, die frei entscheiden, wie und wo sie leben wollen - das Asylrecht, so wichtig es ist, stammt, das sieht man jetzt wieder, aus einer Zeit, in der der Nationalstaat noch die Antwort auf so ziemlich alle Fragen war, was schon damals eine Illusion war.
Europa hadert gerade mit diesem Selbstverständnis, auch das ist eine Ungleichzeitigkeit: Denn die Probleme des 21. Jahrhunderts wird man nicht mit den Mitteln des 20. Jahrhunderts lösen können - die EU steckt ihrer Form und ihrem Wesen nach aber genau zwischen diesen beiden Zeiten fest.
Die Dämonen von gestern sind nicht die Dämonen von heute. Elend und Not aber haben immer das gleiche Gesicht.
Eine Ausschnitt aus einer Kolumne zum Sonntag.
Lass ich mal unkommentiert stehen.