Osteuropa-Shooter aus der zweiten Reihe

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mr archer
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Re: Osteuropa-Shooter aus der zweiten Reihe

Beitrag von mr archer »

Deuterium hat geschrieben:
Der Aufenthalt in Griechenland war hoffentlich zufriedenstellend.
Da Du nun bereits im zweiten Thread insistierst: Griechenland war großartig und atemberaubend. Jeder sollte dieses Land mal bereisen. Landschaftlich mitunter so schön, dass es beginnt, unwirklich zu scheinen. Grandiose Gebirgszüge, mild leuchtende Ebenen, eine unfasslich blaue See. Überall duftet es nach Kräutern. Und Stadtlandschaften, die Atmosphäre atmen wie sonst was. Von der ganzen Geschichte auf Schritt und Tritt mal zu schweigen. Der Süden ist einfach die bessere Welt. In diesem Licht leben zu können - beneidenswert. Einmal im Jahr brauche ich das einfach, wie die Berge. Und das tolle ist: in Griechenland bekommt man beides.

Man merkt dem Land natürlich an, dass nun schon im sechsten Jahr die finanzielle Situation beschissen ist. Viele Investruinen landauf, landab, Leerstand in den Städten, Bettler auf den Straßen und gereizte Sprüche an den Fassaden. Trotzdem ist mir nicht ein einziger Einheimischer komisch gekommen. Vielmehr hatte ich ein paar sehr nette Unterhaltungen, schwarzen Humor und deutsch-griechische EU-Ironie/Sarkasmus inklusive. Sehr sympatische Leute. Stolz und herzlich. Und irgendwie "malerisch". Egal was ein Grieche macht - man will sofort ein Foto von ihm machen. Alles ist Bühne.

Die Destillate und das Essen allgemein sind darüber hinaus über jeden Zweifel erhaben. Und am Sonnabend sollte man nach Einbruch der Dunkelheit unbedingt raus in die Stadt gehen - attraktive Griechinnen gucken.

Unterm Strich: Fuck you, "Bild" (einmal mehr)! Hellas for ever. Und natürlich als Mitglied der EU und gerne auch im Euro. "Europa" ohne Griechenland - absurder Gedanke.


Und weil das hier ja immer noch ein Thread in einem Videospielerforum ist, ein paar Bildimpressionen meiner Reise, bei deren Aufnahme ich ganz Spieler war. Man kann eben nicht aus seiner Haut (mehr Fotos meiner Reise demnächst auf meiner Homepage):

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Limbo, natürlich. Und jede andere Videospiel-Dachlandschaft mit Schrift-Aufbauten.


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Ein Blick über die Tempelanlagen von Delphi. In denen ich mich mehrere Stunden lang herum getrieben habe - wobei mir permanent die Levelbauten der Verlorenen Stadt von Thief 1 durch den Kopf geisterten.


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Apropos Thief: Nachts in Ioannina. Bleib im Schatten, Dieb!


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Im Kultsaal des Totenorakels Nekromanteion am Acheron. Kraul meine Dungeon, kraul schon.


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Nachts auf den Fluren des "Rex", des abgerocktesten Hotels von Thessaloniki. Gleich kommt Max in Bullettime um die Ecke gehechtet.


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Parga am Ionischen Meer. Und dazu habe ich nur vier Sachen zu sagen:

http://www.youtube.com/watch?v=4UYhVVLK ... re=related

http://www.youtube.com/watch?v=UhxX2xN8 ... re=related

http://www.youtube.com/watch?v=zMKex6bw ... re=related

http://www.youtube.com/watch?v=AAEzv-ly ... re=related


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Zu guter letzt wäre da die Geschichte von Ali Pascha, dem Löwen von Ioannina. Der hatte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts vom Statthalter Istanbuls zu einer Art selbsternannten König von Griechenland gemausert, was der Hohen Pforte gehörig auf den Sack ging. Also entsendete man 1820 ein Kommando zur stark befestigen Stadt des Abtrünnigen. Nach zäher Belagerung und der Flucht des alten Fuchses in ein Kloster auf der Insel vor den Toren der Stadt gelang dort 1822 schließlich der finale Kill.

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In diesem Gebäude nagelten sie in schließlich fest.

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Und durch diese Spalten, die heute noch im Fussboden des kleinen Ali Pascha - Museums zu sehen sind, trafen ihn die tödlichen Kugeln.

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Hier mal der Raum in Gänze. In der Vitrine steht übrigens seine Lieblings-Pfeife.

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Der Killer.

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Und so stellte man sich im Westen die Präsentation des Kopfes beim Sultan in Istanbul vor.

Ich sag mal so: der Kill war nicht schlecht. Aber so ein Bohei mit dem Kopf würde einem die Silent Assassin - Bewertung natürlich gehörig verhageln. Amateure.


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Zum Schluss noch etwas griechische Videospiel-Alltagskultur. Ein LAN-Café. Da wird man irgendwie sentimental. Gibt es in jedem größeren Dorf. Ganz klassisch. Ja, man verliert auch was mit flächendeckendem DSL. Kommen und Gehen.

Für meinen Teil erstmal Gehen. Richtung Monatsmitte gibt es dann wieder ein Spiel zu zeigen.
Zuletzt geändert von mr archer am 04.10.2012 13:59, insgesamt 2-mal geändert.
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Deuterium
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Re: Osteuropa-Shooter aus der zweiten Reihe

Beitrag von Deuterium »

mr archer hat geschrieben:
Deuterium hat geschrieben:
Der Aufenthalt in Griechenland war hoffentlich zufriedenstellend.
Da Du nun bereits im zweiten Thread insistierst...
"Neugier ist keine Sünde" (Albus Dumbledore, Harry Potter und der Feuerkelch)

Sie ist aber nun befriedigt. Danke
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Obstdieb
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Re: Osteuropa-Shooter aus der zweiten Reihe

Beitrag von Obstdieb »

Deuterium hat geschrieben:Manchmal muss man eben zu einer Textwand, oder sonstigen Außergewöhnlichkeiten hier provoziert werden. :) Für mich hat es sich nur so angehört (anscheinend Fehlinterpretation), dass du des Schreibens eher müde bist, weil du mit deinen Textlängen unzufrieden bist und daher dein Heil in Internetvideos suchst, weil du, wie du sagst, lieber redest.
Ja hab ich blöd geschrieben, Videos sind halt eine weitere Option um eine Art Dialog zu eröffnen.
Ich mache beides gerne, schreiben und reden aber irgendwann verliert man die Lust wenn man bemerkt ,dass viele Leute einfach nicht zuhören! Argumente können die wenigsten bringen und annehmen scheint auch sehr schwer zu sein.
kamm28
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Re: Osteuropa-Shooter aus der zweiten Reihe

Beitrag von kamm28 »

Danke für die schönen Impressionen aus Griechenland!
Ich war das letzte Mal vor über 20 Jahren da, noch ziemlich klein und ganz ohne Computerspiel-affine Sicht auf die Dinge. Seitdem trage ich das Land mit mir herum, in vielen, so wie von dir beschriebenen leuchtenden und duftenden Erinnerungen. Als Ersatz war ich inzwischen schon oft in Kroatien, was zwar in manchen Kriterien an Griechenland light erinnert (sorry, Kroatien, aber dein Meer ist nun mal nicht ganz so blau, deine Olivenhaine nicht ganz so urig), was ich aber trotzdem sehr zu schätzen gelernt habe.
Egal, irgendwann muss ich unbedingt wieder nach Griechenland!

They're alive habe ich letztens übrigens gespielt. Für alle, die sich überlegen, es zu kaufen: Es ist vor allem eines, und zwar kurz. Nach ein paar Levels, die sehr schlauchig, aber grafisch teilweise durchaus schick waren, wähnte ich mich noch mitten in einer Standard-Mission, als auf einmal das Leveldesign verdächtig futuristisch wurde (erinnert an manchen Stellen übrigens an Operation: Matriarchy) und mir alsdann schon der Endgegner vor die Füße purzelte. Kurzer Endfight, noch kürzerer Epilog, fertig. Na ja, von mir aus. Ich war jedenfalls recht froh, kein Geld dafür ausgegeben zu haben, obwohl ich für die kurze Zeit gut und recht skurril unterhalten wurde, halt mit den erwartbaren Macken osteuropäischer Trash-Produktionen, wie z. B. manchmal unzureichenden Treffer-Feedbacks. Dafür gibt es aber ein Echtfilm-Intro. Und Cyborg-Tippsen mit kurzen Röcken. Und politische Kritik. Oder vielleicht eher, was manche dafür halten. ;)
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Dan Chox
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Re: Osteuropa-Shooter aus der zweiten Reihe

Beitrag von Dan Chox »

archer - wenn man dich nicht besser kennen würde, hielte man dich bei deinen sinnierten Videospielparallelen gegenüber jahrtausendealten Kulturen glatt für einen argen Kulturbanausen.
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mr archer
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Re: Osteuropa-Shooter aus der zweiten Reihe

Beitrag von mr archer »

Ach, weisst Du - ich glaube viele Griechen sind da entspannt. Über 2500 Jahre Hochkultur machen doch irgendwie auch ein bisschen relaxt und verändern die Perspektive auf die Zeit. Ich war mit einem Griechen in Dion am Thrakischen Golf im archäologischen Museum des einstigen Zeusheiligtums. Der konnte mir die Aufschriften von Grabsteinen aus dem Jahr 500 v.Chr. übersetzen. Mit seinem Griechisch des 21. Jahrhunderts konnte er die einfach so lesen. Da war ich beeindruckt. Das nenne ich mal Kultur. Aus der Perspektive betrachtet hat man doch nördlich der Alpen erst Anfang der letzten Woche die Bäume verlassen.

Und nachdem ich gestern mal wieder in 300 reingeschaut habe ... Mal so gesagt: wenn Zack Snyder aus dieser alten Geschichte ein zünftiges protofaschistisches Abendland-Morgenland-Gemetzel in Leni Riefenstahl - Optik machen kann. Dann darf ich auch ein bisschen rumspinnen. Die Antike ist nun mal der Grundstock unserer Kultur. Und daraus zieht dann jeder das ihm gemäße Pflänzchen.
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mr archer
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Re: Osteuropa-Shooter aus der zweiten Reihe

Beitrag von mr archer »

"Für das nächste Mal, dass ich Sie töte", antwortete Scharlach, "verspreche ich Ihnen das Labyrinth, das aus einer einzigen geraden Linie besteht, und das unsichtbar, unaufhörlich ist." Er trat einige Schritte zurück. Dann, sehr sorgfältig, feuerte er.
Jorge Luis Borges, Der Tod und der Kompass


Das FPS wie wir es kennen wird dieses Jahr zwanzig. Klar, es gab Vorläufer in den 1980ern. Aber der Beginn im eigentlichen Sinn war 1991/92. The Catacomb. Die weiterentwickelte Version The Catacomb: Abyss habe ich damals tatsächlich gespielt. Erinnerungen habe ich eigentlich nur noch an die roten Dämonen und an meine Feuerbälle, die der Levelarchitektur zusetzten. Stimmt nicht – jetzt fallen mir noch Sumpflevel ein, in denen Bläschen näher rückende Kreaturen ankündigten. Das Ursprungsteam von Catacomb werkelte während ich das spielte bereits am ersten Meilenstein des Genres: Wolfenstein 3D. Und ein Jahr später kam von den Jungs dann Doom. So war das damals. Kurt Cobain und der Space Marine. Seufz. Long ago.

Der gute Kurt ist lange tot. Beim FPS hingegen fällt die Diagnose schwerer. Es hat sich in vielen Aspekten so sehr zu damals verändert, dass man mitunter nur noch schwer die alten Wurzeln erkennen kann. Wenn ich einen Bildvergleich zur Beschreibung dieser Evolution wählen müsste:

Damals (tm):

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Heute:

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Ein paar der Wurzeln schließlich wurden gänzlich durchtrennt. Über eine von ihnen soll hier etwas gesprochen werden. Ich meine die viel zu oft vergessene Tatsache, dass Shooter in den Jahren bis 1998 neben fröhlich-schnellen Fragfesten vor allem eins waren: sie waren Labyrinthe. Sie forderten nicht nur unser Reaktionsvermögen heraus. Sie testeten vielmehr auch unseren Orientierungssinn. Wolfenstein 3D war ein gottverdammtes streng rechteckig angelegtes Labyrinth voll mit Pixelnazis. Die Herausforderung lag nicht einfach darin, die alle auf dem Weg zum finalen Hitler-Mech aus dem Weg zu räumen. Mindestens genau so schwierig gestaltete sich die Aufgabe, sich dabei nicht hoffnungslos in den nicht gerade variantenreich gestalteten Levelfluren zu verfransen.

Ist mir natürlich nicht passiert. Bis heute habe ich mich im Leben draußen in der Welt kaum je irgendwo mal verlaufen. Auch ohne GPS und Smartphone zu befragen. Wolfenstein 3D sei Dank. FPS-Pfadfinderausbildung Erster Klasse. Auf meinem letzten Durchlauf des Spiels 1999 in meiner frisch bezogenen Berliner Studentenbude habe ich mich irgendwann im Winter mal hingesetzt und von jedem Level dieses Genreurvaters auf kariertem Papier eine Map gemalt. Maßstabsgetreu. Das ging bei Wolfenstein 3D sehr gut, denn jede Wand stand im Winkel von 45 Grad zur anderen, und jedes Wandsegment hatte die gleichen Abmessungen. Auf die Art habe ich jedes Secret des Spiels gefunden. Auch das versteckte Packman-Level. DAS waren noch Achievements! Von oben sahen diese Levelkarten dann gerne mal wie viktorianische Heckenlabyrinthe aus.

Die Mutter für diese herrlich zeitvergeudende Idee war natürlich Doom. Oh die Freude die ich empfand, beim Drücken der Tabulator-Taste die permanent mit meinen Streifzügen in der UCI-Basis anwachsende Map zu studieren, die id hier bereits implementiert hatte. Und am Ende auf ihr nach Freistellen zu suchen, die auf Geheimräume hindeuteten. Ich denke, ich könnte heute noch einige dieser Karten aus dem Gedächtnis rekonstruieren (hm … "Wetten das" … wäre nerdig ohne Ende … hm … Carmack als Wettpaten … ihn hinterher vor laufender Kamera verhauen … hm …) Doom II, Heretic, Duke Nukem 3D, Blood, Quake, Unreal – wie ich es genossen habe, nach den Keycards zu suchen, nach Schaltern und geheimen Durchgängen. Wenn ich drüber nachdenke, hat das wahrscheinlich 50 Prozent meines Spielspasses bei diesen Titeln ausgemacht. Wer sich heute mal ein Bild machen möchte: Redneck Rampage. Gibt es bei GOG. Als Shooter nicht so doll. Aber als Labyrinth der absolute Wahnsinn.

Dann kam 1998. Half life. Und plötzlich wollten alle in ihren Ballerspielen Scriptereignisse und eine Geschichte mit Wendungen. Dafür braucht man aber einen Levelschlauch. Sonst latscht der Spieler einfach an dem schönen, teuren Script vorbei. Deswegen sehen Shooter heute aus wie Michael Bays REM-Phase. Mit einem Labyrinth geht so was nicht. Lasst uns zum zwanzigsten Geburtstag einen Kranz beim Grabmal für die blaue, die rote und die gelbe Keycard niederlegen. The times, they are a changing. Man kann sich in Shootern nicht mehr verlaufen. So ist das eben. Dafür erschreckt man sich beim Umdrehen an der Leiter in F.E.A.R. Ist doch auch schön.

Dann kam der zurückliegende September. Und ich stehe dumm vor einem verrammelten Gitter in einem FPS in einer Sackgasse. Ich muss da durch. Ich weiß nicht wie. Nach zwanzig Jahren finde ich meinen Meister. Er kommt aus Osteuropa. Woher sonst.


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mr archer
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Re: Osteuropa-Shooter aus der zweiten Reihe

Beitrag von mr archer »

Verzweiflung in Videospielen hat viele Gesichter. Thief 1 auf Experte. Die Alte Stadt. Ich suche seit Stunden in jedem Winkel der Map nach dem letzten fehlenden Silberkelch, um das Minimum beim Loot zu erreichen. Das Gestöhne der Untoten macht mich von Minute zu Minute bösartiger. Hitman 1. Mit schweißnassen Händen steuere ich den bereits ordentlich angeschossenen 47 in Richtung des Hangars, um von der Drogenplantage im kolumbischen Dschungel zu fliehen. Einen habe ich übersehen. Nach vierzig Minuten starte ich das Level neu. Zum xten Mal. Ich spüre, wie in mir der Hass aufsteigt. Monkey Island 2. Der Wettbewerb im Weitspucken. Ich kriege es nicht hin. Die Welt ist scheiße. Tie Fighter. Die Schilde meines Tie Advanced sind komplett runtergefahren. Alle Energie in den Traktorstrahl! Und wieder habe ich den richtigen Moment verpasst und dem flüchtenden corellianischen Frachter gelingt der Hypersprung. Dieses Zeitfenster erwische ich nie. Psychonauts. Der Fleischzirkus. Zum gefühlten tausendsten Mal läuft der kleine Freak Hasi hinterher. Und ich verkacke den letzten Sprung. Gleich kommt wieder die unskipbare Cutscene. Tim Schaefer, ich lasse Dich meine Tastatur fressen, Buchstaben für Buchstaben in einer dunklen Nebenstraße wo keiner Deine Schreie hört.

Es gibt wenige Dinge für einen Spieler, die befriedigender sind als das Gefühl, wenn man es dann wider Erwarten doch noch geschafft hat. Man wird diese Spiele immer in respektvoller Erinnerung behalten. Denn man weiß, dass auch Zufall dabei war. Glück. Es ist wie die Besteigung eines hohen Berggipfels. Man war oben. Und schon beim Abstieg weiß man, dass es nicht nur das eigene Können war. Sondern dass der Berg mal nett sein wollte. Wie es aussieht, sind gegenwärtig die Souls-Spiele diesem Prinzip verpflichtet.

In Zeiten der Lets Play – Videos auf Youtube, der Trainer und der stets zur Verfügung stehenden Walkthrougs sind solche Momente selten geworden. Die Lösung ist immer nur einen Klick entfernt. Im Adventure hat man den Kampf aufgegeben und die Spielhilfe gleich ins Design integriert. Und sich aufs Erzählen putziger Geschichten verlegt. Ist inzwischen mehr wie Trickfilm gucken. Und mal ehrlich: diese Schieberätsel, an denen man nach der Schule ganze Nachmittage lang fest hing, sind uns doch eigentlich immer mehrheitlich auf den Sack gegangen. Damals musste man wenn alle Stricke gerissen waren den einen Typen aus der Klasse anrufen, der die zusammenkopierte Komplettlösung hatte. Entwürdigend. Heute wirft man Google an. Hat doch was für sich.

Tja. Pech gehabt. Denn zu diesem Titel hier gibt es im ganzen unendlichen Internet so gut wie keine Reviews. Es gibt kein aussagefähiges Lets Play. Es gibt keinen Walkthrough. Kein Fan- oder Entwicklerforum. Keine Savegames zum Runterladen. Und es gibt keinen Noclipping-Cheat. Niemand kann mir hier helfen. Ich stehe vor diesem miesen Gitter in der Sumpfwelt herum, habe zwei Schlüssel im Inventar und kann durch die Gitterstäbe hindurch sehen, wo ich sie einsetzen muss. Aber ich komme nicht ran. In meiner Verzweiflung poste ich einen Hilferuf ins Forum von yiya, wo einige Osteuropa-Shooter-Spieler hin und wieder mal abhängen. Achselzucken allerseits. Nee, haben wir auch nicht gespielt. Glück auf den Weg. Poste hier mal die Lösung rein, wenn Du sie findest. Ich bin der einzige Mensch der Welt, der Liquidator spielt. Das Moskauer Parallax Art Studio hat dieses Spiel einzig und allein zu dem Zweck gecoded, um mich fertig zu machen. Ich bin verzweifelt. Selbst wenn das hier ein Bug sein sollte – es gibt niemanden, der mir das bestätigen könnte. Ich klappere die Map ab, wieder und wieder und wieder. Aus Stunden der Wut werden Nächte des ohnmächtigen Zorns und der Verzweiflung. Überall schaue ich nach. Ich lade die komplette Welt neu, spiele mich noch mal durch. Und ende wieder vor dem Gitter. Ich bin ein Versager.

Ich lasse es bleiben. Ich brauche Abstand. Zwei Wochen Griechenland. Bei Preveza über der Ebene des Acheron, dem Totenfluss der griechischen Antike, besuche ich das auf einem Hügel ausgegrabene Totenorakel Nekromanteion. Die Pilger wurden hier mehrere Tage lang in einem fensterlosen Raum mit einer speziellen Diät malträtiert. In einem fensterlosen Labyrinth raubte man ihnen den Orientierungssinn. Und wenn sie dann körperlich und nervlich ausgelaugt und halb wahnsinnig in den Thronsaal von Persephone und Hades hinabkletterten, dann spielten ihnen die Priester mit einer Apparatur die Schatten der Toten vor. Ich verstehe. Du hast Dich reinziehen lassen. Du bist emotional geworden. Denk dran, wie Du früher aus solchen Sackgassen raus gekommen bist. Lass los. Verkrampf nicht. Schau genau hin.

Am letzten Wochenende bin ich hinter das Gitter gekommen. Ich habe das Labyrinth gelöst. Liquidator ist Geschichte. Der Bug saß mal wieder vor dem Bildschirm. Ich hatte seit Jahren in diesem Hobby kein vergleichbares Triumpfgefühl mehr.
Zuletzt geändert von mr archer am 04.11.2012 10:43, insgesamt 1-mal geändert.
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mr archer
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Re: Osteuropa-Shooter aus der zweiten Reihe

Beitrag von mr archer »

Nach allem was hier in den letzten zwei Tagen gesagt wurde, bleibt beim Leser vermutlich noch immer ein großes Fragezeichen stehen. Triumphgefühl hin und her, hoch lebe das Labyrinth im FPS schön und gut – aber was taugt Liquidator denn sonst so? Diese mehr als berechtigte Frage ist selbst im Rahmen dieses thematisch dem Absonderlichen stark zugeneigten Threads gar nicht so leicht zu beantworten. Ich habe hier wirklich schon sehr randständiges Zeugs besprochen. Operation Matriarchy. Mortyr 2. The Kreed. Zuletzt zu Instinct gab es hier bei 4players nicht einmal einen Datenbankeintrag. Den hat Liquidator zwar. Dafür kennt drüben bei Mobygames niemand diesen Titel. Und bei Mobygames kennen sie sonst alles. Liquidator ist vielleicht das Merkwürdigste und Verquerste, was man sich für wirklich kleines Geld im FPS-Segment auf dem Gebrauchtmarkt so erstehen kann. Dieses Spiel verweigert sich beinahe jedem mir bekannten etablierten Genremaßstab. Es ist krude. Es ist einzigartig. Aber das muss nicht automatisch heißen, dass es auch gut ist.

Das beginnt schon mit der Vorgeschichte des Titels. Denn die gibt es. Liquidator heißt nämlich eigentlich Liquidator 2. Das ursprüngliche Liquidator stammt aus dem Jahr 1997. Über diesen Titel ist so gut wie nichts herauszubekommen. Meine einzigen Infos stammen aus den Youtubekommentaren zu einem kurzen Gameplayvideo aus der großartigen "Obscure First Person Shooters" Serie von MarphitimusBlackimus. Diesen Kommentaren zufolge war Liquidator ein von zwei russischen Codern in Eigenregie zusammengebastelter stark verfremdeter Duke Nukem 3D – Mod, der in Russland tatsächlich als Verkaufsexemplar in den Läden stand. Und zwar ohne 3D Realms Okay. Ach die 90er. Schöne Zeiten. Hier das Video:

http://www.youtube.com/watch?v=JVp_LgKZ ... re=related

2006 veröffentlicht das St. Petersburger Parallax Arts Studio dann sein Remake dieses russischen Shooterurgesteins. Denn das ist Liquidator 2, wie wir es von nun an korrekterweise nennen wollen. Und zwar zum Teil in erstaunlicher Konsequenz und Werktreue, die einigen Respekt für das Original verströmt. Was id 2004 mit Doom 3 nicht getan hat, die Moskauer tun es: sie bauen die Vorlage zwei Grafikkartengenerationen später mit den aktuellen technischen Möglichkeiten eins zu eins nach. Objektphysik, Shader, Bloom usw. – und die identischen Maps sowie Gegnertypen von damals. Der Effekt ist ziemlich verblüffend. Liquidator 2 fühlt sich an, als würde Doom oder Duke Nukem 3D in der Grafikengine von sagen wir einem leicht aufgebohrten Painkiller reinkarnieren. Ein Labyrinthshooter der ersten Hälfte der 1990er kommt in 2006er Verkleidung auf die Party. Und die Bouncer lassen Opa tatsächlich rein. Jetzt grabbelt er die jungen Dinger an, säuft und frisst sich durchs Buffet und randaliert auf der Tanzfläche rum. Schöne Bescherung.

Aber selbst unter seinesgleichen würde Liquidator 2 auffallen wie ein bunter Hund. Das Spiel besteht aus ganzen drei Welten. Ruinenstadt, Sumpf, Hölle. Jede dieser Welten besteht wiederum aus einer einzigen, großen Map, die quasi organisch mit unseren Streifzügen mit wächst. Diese Stage ist ein weitschweifiges Labyrinth, in dem wir den Ausgang finden müssen. Den Weg dahin versperren uns Schlösser, die mit Runen in insgesamt vier Farben geöffnet werden müssen. Diese Runen gilt es aufzuspüren. Ohne Kartenfunktion. Einzig eine Kompassnadel zeigt mit einem dunkler werdenden Gelbton an, dass wir uns in der Nähe einer solchen Rune befinden. Was nicht heißt, dass wir auch an sie ran kommen. Denn dazwischen kann immer noch ein Gitter sein. Also schön die Augen offen halten und nicht die Orientierung verlieren. Es geht durch fallengespickte Katakomben, geflutete Kanäle, über arenenartige Innenhöfe, Lavafelder usw. usw. Hat man eine der drei Welten einmal geknackt und ihren Aufbau verstanden, ist sie im zweiten Anlauf in einer knappen Stunde absolviert. Dann schrumpft Liquidator 2 auf maximal vier Stunden Gesamtspielzeit zusammen. Bis dahin ist es aber im Erstdurchlauf ein weiter Weg. Hinterher ist man eben immer schlauer.

Optisch macht das Ganze einiges her. Das fängt schon beim sehr schön gestalteten Menü an. In den drei Welten begegnen uns dann schöne Wassereffekte und sehr eindrucksvoll und glaubhaft glühende Lava. Überhaupt sind die Farben im Spiel angenehm satt und bei all dem sonst vorherrschenden Brauntönen dieser Generation fast schon eine Augenweide. Auch die Lichteffekte wissen immer wieder zu gefallen. Einzig mit dem Bloom haben sie hier und da etwas übertrieben. Trotzdem – visuell ist Liquidator 2 im B-Segment eher ein Hingucker. In diesem Labyrinth sucht man gerne nach dem Ausgang.

Leider muss man in Liquidator 2 aber auch ballern. Der Vorgang an sich ist auch gar nicht schlimm. Das Standartwaffenarsenal verrichtet standartgemäß seinen Dienst. Besonders ist der Fakt, dass man von Anfang an über alle sechs Waffen verfügt. Munition wird in im Level versteckten „Agentur“-Räumen nachgefüllt, nach denen man wie nach den Runen auf die Suche gehen muss. Ist mal was anderes.
Problematisch wird die Sache, wenn wir auf die KI zu sprechen kommen. Dass sie dumm wie Brot ist, kritisiere ich gar nicht. Wie gesagt, dass hier ist eine Reinkarnation der frühen 90er. Immerhin gibt es eine gewisse Varianz, jede Welt hat ein paar exklusive Gegnertypen spendiert bekommen und einige davon wie der sich immer weiter aufteilende und dabei kleiner werdende Oger fand ich ganz lustig. Mein Problem mit der KI von Liquidator 2 ist, dass sie in diesem gut entworfenen Labyrinth ungefähr so verloren herumsteht wie ich vor dem Tor im Sumpflevel. Mitunter begegnet man minutenlang keiner Sau. Es gibt schön entworfene Arenen. Nur leider finden in ihnen keine Kämpfe statt. Manchmal fühlt sich Liquidator 2 an, als ob bis auf den Spieler alle anderen auf Urlaub sind. Und findet man dann doch mal jemanden zum drauf schießen greift die zweite Merkwürdigkeit des Spiels: Respawn in wenigen Sekunden. Irgendwas ist hier mit den Triggern daneben gegangen. Die Jungs tauchen einfach permanent an den identischen Stellen wieder auf. Auf meinen ausgiebigen Streifzügen bei der Suche nach den Runen habe ich sie ab einem bestimmten Punkt versucht, weitestgehend zu ignorieren. Das geht ganz gut, denn mehr als zwei Räume weiter verfolgen sie einen eh nicht. Außerdem ist ihr Angriffsschaden so gering, dass man sich sowieso eine gefühlte Ewigkeit ohne Gegenwehr hinstellen muss, damit sie einen umpusten können. Wir haben uns nach einer Weile darauf geeinigt, dass ich in Ruhe den Ausgang suche und sie mir nicht weiter auf die Nerven gehen. Und manchmal habe ich einen von ihnen umgeschossen, damit sie der Gedanke daran, dass sie die wohl harmloseste KI der Shootergeschichte sind nicht zu sehr deprimiert und sie den Kollegen aus den anderen Titeln einmal im Jahr zur Weihnachtsfeier zumindest mit einem kleinen Rest von Selbstachtung in die Augen blicken können.

Ach ja – die "Story" ist natürlich angemessen bekloppt. Und die Mucke des Spiels auf absurde Weise großartig. Hier der dazugehörige saukomische Introfilm und ein bisschen Gameplay:

http://www.youtube.com/watch?v=4MDQmCYx ... ure=relmfu

Was bleibt? Die Erinnerung an ein bemerkenswertes Spiel. Das hier ist etwas Besonderes jenseits solch banaler Zuschreibungen wie "gut", "schlecht" oder "katastrophal". Liquidator 2 ist Punk. Es ist eine Perle meiner FPS-Sammlung. Ich freue mich über dieses Spiel. Denn es ist individuell in aller Konsequenz. Wie ich es später im Lesertest bewerten soll, ist mir ein absolutes Rätsel. Vielleicht würfle ich einfach. Morgen poste ich – diesmal ohne launige Sprüche – noch ein paar Sreenshots, dass Ihr Euch ein Bild machen könnt. Keine Ahnung, ob ich Euch dazu raten soll, es zu erwerben. Aber vielleicht reizt ja den einen oder die andere die Vorstellung, den Ausgang gleich auf Anhieb zu finden. Und mir dass dann noch ewig unter die Nase reiben zu können.

I dare you. I double dare all of you!
Zuletzt geändert von mr archer am 02.12.2012 17:37, insgesamt 2-mal geändert.
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Achmedtheanimal
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Re: Osteuropa-Shooter aus der zweiten Reihe

Beitrag von Achmedtheanimal »

Challenge accepted!
ist bestellt, 28c + 3€ Versand :ugly:
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mr archer
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Re: Osteuropa-Shooter aus der zweiten Reihe

Beitrag von mr archer »

Für Achmed, den Mann ohne Furcht und alle anderen Besucher dieses Threads hier nun ein paar Bilder von meiner Reise durchs Labyrinth. Enjoy.


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mr archer
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Re: Osteuropa-Shooter aus der zweiten Reihe

Beitrag von mr archer »

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Zuletzt geändert von mr archer am 23.10.2012 23:04, insgesamt 8-mal geändert.
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Re: Osteuropa-Shooter aus der zweiten Reihe

Beitrag von Skippofiler22 »

Und ich dachte immer, das sei eine Mod von Stalker. Aber als ich den Titel gelesen habe, hat es mich schon ein wenig positiv erstaunt, dass es sich um ein recht unbekanntes eigenständiges Vollpreis-Spiel handelt.
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mr archer
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Re: Osteuropa-Shooter aus der zweiten Reihe

Beitrag von mr archer »

So.

http://www.4players.de/4players.php/gam ... index.html

Und ich musste wegen der Zahl doch nicht würfeln. Tschüss, Liquidator 2. War sehr unterhaltsam mit Dir.
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Achmedtheanimal
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Re: Osteuropa-Shooter aus der zweiten Reihe

Beitrag von Achmedtheanimal »

eben L2 ausgepackt, Archer was tatest du mir an 8O
das Intro ist ja wohl mal reinster Trash!

Werde ich das Wochenende überleben?