Das bisherige Feedback reicht, um schon mal eine Gegendarstellung im Sinne der Meinungsvielfalt unter Spielern abgeben zu können, und zwar auf den Beitrag von Almalexian. Meine Ansichten bezüglich des Themas "Storys in Spielen" sind den seinen teilweise diametral entgegengesetzt.
Es fängt schon damit an, dass ich die Geschichten keineswegs als Mittel zum Zweck ansehen würde, im Gegenteil: Für mich sind sie integraler Bestandteil in dieser Kulturform. Natürlich gibt es viele Spiele, die ganz ohne Story auskommen und trotzdem sehr gut funktionieren. Es gibt aber ebenso solche, wahrscheinlich sogar insgesamt mehr, die ohne narrative Elemente nicht das wären, was sie sind. Call of Duty wurde als Beispiel einer "Mittel zum Zweck"-Story genannt, was meiner Ansicht nach zumindest teilweise nicht zutrifft. Ich muss hier einräumen, dass ich die Reihe nur bis zum ersten Modern Warfare gespielt habe, aber gerade in diesem Teil sorgt die erzählte Geschichte dafür, dass es um weit mehr als ums Ballern geht. Die Missionen rund um Tschernobyl und eine andere mit extrem depressivem Ausgang (ich möchte Spoiler vermeiden; die es gespielt haben werden wissen, welche ich meine) haben bei mir eine Stimmung erzeugt, die genau das darstellt, was ich in Spielen eigentlich suche, nämlich das Eintauchen in eine Welt, die mich emotional und atmosphärisch packt. Der gute alte Eskapismus, würden viele jetzt einwerfen. Und sie hätten nicht unrecht. Allerdings handelt es sich um den gleichen Eskapismus, der bei Spielertypen wie mir auch in den meisten anderen Kulturformen greift, vor allem in der Literatur und im Film. Um was soll es denn beim Lesen eines Romans gehen, wenn nicht um das Eintauchen in eine Geschichte, die eben nicht die eigene ist, durch die Beschäftigung damit aber oft ein Teil dessen wird?
Damit wären wir auch schon bei den unterschiedlichen Spielertypen. Ich möchte niemanden widersprechen, für den Computerspiele Sport sind und der den Wettbewerb sucht. Kann jeder so halten, wie er will. Für mich ist das aber in den seltensten Fällen der ausschlaggebende Beweggrund. Deshalb würde ich auch widersprechen, dass die interaktiven, also spielerischen Elemente aus dem Sport kommen. Mein Vorschlag: Sie kommen davon, wonach das Ganze benannt wurde, dem Spielen an sich. Das bedeutet einerseits natürlich, dass es (wie im Sport) Regeln gibt, andererseits lässt es sich auf das zurückführen, was die meisten von uns gemacht haben, als sie Kinder waren, wobei Geschichten auch eine wichtige Rolle gespielt haben. Es lässt sich festhalten: Für Spielertypen wie mich ist die Story in Spielen essentiell wichtig! Nur, wie funktioniert das?
Ein Stichwort dazu wurde schon gegeben, Interaktivität. Allerdings würde ich diese ganz anders definieren als Almalexian. Das fängt damit an, dass ich Filme nicht als Berieselung ansehe, und bei Büchern die Interaktivität nicht mit dem Erfassen von Buchstaben aufhört. Wenn ich ein Buch lese, passiert da unglaublich viel an Interaktivität zwischen mir und dem Text. In der wissenschaftlichen Theorie über Rezeption von Kunst und Kultur geht man schon lange nicht mehr davon aus, dass das Werk für sich steht, mit festen Attributen, und vom Rezipienten möglichst genau so erfasst werden muss, wie es vom Autor gedacht war. Eher ist es so, dass sich z. B. ein Roman für jeden Menschen anders lesen wird, mit jeweils individuellen Assoziationen, Schlüssen, Vorstellungen, Interpretationen und so weiter. Dafür gibt es einige Gründe. Zwei davon sind die von Roman Ingarden definierten Unbestimmtheitsstellen und die von Wolfgang Iser eingeführten Leerstellen innerhalb der Literaturtheorie. Unbestimmtheitsstellen liegen immer dann vor, wenn z. B. von einem Charakter die Augenfarbe nicht erwähnt wird. Das führt dazu, dass manche Leser dieses Attribut offen lassen, für andere die Person blaue Augen hat und wieder andere, entsprechend ihrer Präferenzen, dem Charakter eine giftgrüne Tönung unterjubeln. Leerstellen dagegen entstehen da, wo verschiedene Elemente einer Geschichte, z. B. Einzelschicksale, Szenen, Erzählperspektiven usw. aufeinander treffen und in einen Gesamtzusammenhang gebracht werden müssen, ohne dass dieser explizit erwähnt wird.
Von solchen Modellen ausgehend, ist es für mich relativ einleuchtend, dass selbst simple Filme oder Spiele solche "Stellen" enthalten müssen. Für mich sieht es sogar oft so aus, dass selbst anerkannt schlechte Werke, insofern sie viele Leer- oder Unbestimmtheitsstellen haben, in meinem Ansehen enorm steigen können, indem ich mit meiner Phantasie diese Lücken auffülle und sozusagen für mich doch noch etwas daraus mache. Andererseits ist es oft ein Merkmal gerade anspruchsvoller Literatur oder Filme, wenn sie eben den Rezipienten dazu auffordern, selbst aktiv zu werden und nicht alles von vornherein erklären. Ein Kriterium, dass meiner Ansicht nach auf Spiele ebenso zutreffen kann, wie auf Literatur und Filme.
Ich kann ja mal ein paar Beispiele bringen; ich meine, ich hätte diese an anderer Stelle in diesem Forum schon mal gebracht.
Tomb Raider, das erste. Ein Spiel mit einer ziemlich rudimentären Story und einer Welt, die aus ca. 1 x 1 Meter großen Blöcken zusammengebastelt wurde. Die Protagonistin wird höchstens ansatzweise charakterisiert, als toughe, ehrgeizige und abenteuerlustige Powerfrau. Trotzdem war es für mich ein unglaublich intensives Abenteuer, in dem ich durch Höhlensysteme geklettert bin, die vor mir seit tausenden von Jahren noch nie jemand erkundet hatte. Und jetzt, im Nachhinein, ebenso wie während des Spielens, kommt mir diese Spielwelt viel größer und viel komplexer vor, als sie es nach messbaren Kriterien überhaupt ist. Die paar Story-Happen, die mir in den wenigen Zwischensequenzen geboten werden, in Verbindung mit der dichten Atmosphäre, befeuern meine Phantasie derart, dass ich die vielen Lücken ausfülle, mir meine eigenen Geschichten hinzufüge. Meinetwegen Natla, eine durchaus interessante Antagonistin, eine gefallene und verbannte Herrscherin eines antiken, fremdartigen Universums, die auf der Erde landete und dort anscheinend erst einmal am sagenumwobenen Atlantis mitgemischt hat, ein Wirtschaftsimperium aufbauen und viele Anhänger rekrutieren konnte. Wie hat sie das geschafft, ihre Fremdartigkeit dabei getarnt? Was war das für eine Zivilisation, aus der sie ursprünglich stammte? Wie sah Atlantis mal aus, in dessen Überresten man später herumirrt? Sowieso, die ganzen untergegangenen Zivilisationen in Griechenland und Ägypten. Woher kennt Lara den Söldner Pierre? Viele Anküpfpunkte, an denen man anschließen und die Fragmente weiterspinnen kann, wenn man möchte. Und die (in Wirklichkeit nicht gegebene) Größe der Spielwelt ergibt sich auch daraus, dass man die Levelbegrenzungen nur als solche akzeptiert, es einem aber logisch erscheint, dass nach dieser Texturwand noch etwas kommen muss, eine weitere Höhle, weitere Gänge - eine Größe, die nur in der Phantasie existiert, die aber immens wichtig ist, um die Illusion eines riesigen, unergründlichen Höhlenkomplexes aufrecht zu erhalten.
Tomb Raider ist ein sehr simples Beispiel. Was ist mit Werken wie System Shock 2, in dem durch Textmemos Charaktere lebendig werden, die zwar real erscheinen, tatsächlich aber nur in Form dieser Texte erfahrbar sind? Oder Bioshock, welches Ähnliches mittels Tonaufnahmen erreicht; dazu noch die geheimnisvolle Stadt Rapture, deren Vergangenheit auch erst in der Phantasie des Spielers lebendig wird. Oder experimentelle Spiele wie die Half Life-Mod "Halfquake: Amen", bei der man in eine abstrakte Welt versetzt wird, in der die Gesetze unserer Welt auf den Kopf gestellt oder gleich komplett ad absurdum geführt werden. Das sind alles Elemente, die nicht durch irgendwelche Spielmechaniken vermittelt, allerdings oftmals davon unterstützt werden, statt dessen aber auf den verschiedenen narrativen Formen innerhalb von Spielen beruhen.
Um noch mal auf den Beitrag von Almalexian zurückzukommen: Ich halte es für absolut nicht notwendig, dass diese narrativen Elemente einer bestimmten Form folgen, nämlich wie in dem Posting suggeriert, durch pseudoindividuelle Entscheidungen, bei denen man zum Beispiel den Tod einer storyrelevanten Person in Kauf nimmt, oder nicht. Vielleicht habe ich das auch falsch verstanden. Jedenfalls hat ein Adventure nicht erst dann eine gelungene Geschichte zu bieten, wenn an bestimmten Stellen Spieler unterschiedliche Wege gehen können. Es kann auch eine komplett lineare Story sein - wenn sie gut geschrieben ist, ist es für mich eine gute Geschichte. Natürlich können besagte Entscheidungen auch den Reiz eines Spiels ausmachen, das möchte ich gar nicht bestreiten. Im Gegenteil, hierbei handelt es sich meiner Ansicht nach um eine der Vorteile im Vergleich mit anderen Kulturformen, ebenso wie das in letzter Zeit verstärkt in den Fokus der Betrachtungen rückende Environmental Storytelling. Dadurch, dass Geschichten in Spielen nicht nur klassisch linear, sondern auch anders erzählt werden können und das Erleben dieser Story wahrscheinlich immer von Gameplay-Mechanismen "gestört" werden wird, würde ich auch davon absehen, einen direkten Vergleich mit Literatur und Filmen zu bemühen, so dass man dann von einer "gleichwertigen bis höherwertigen" Erfahrung sprechen kann. Man darf ja auch nicht vergessen: Schlechte Geschichten hat es in allen narrativ angelegten Kulturformen schon immer gegeben und wird es auch immer geben. Und dass es zu viele Spiele gibt, die den Spieler unterfordern, tatsächlich nur zum besagten Eskapismus einladen und sämtliche andere Qualitätsmerkmale vermissen lassen, darüber braucht man eigentlich nicht diskutieren. Allerdings: Ebenso wie in den anderen Kulturformen gibt es mehr gelungene und interessante Beispiele, als ich überhaupt konsumieren kann. Von daher will ich mich nicht beschweren.
