Pathologic
1. Vorbemerkungen
Dies ist nun das zweite Mal, dass ich in diesem Thread etwas weiter ausholen werde. Grund dafür ist
Pathologic, das ich seit Ende November letzten Jahres intensiv gespielt habe und Euch hier näher bringen möchte, da ich es für ein sehr bemerkenswertes Spiel halte, dem vor allem im deutschsprachigen Raum seitens der professionellen Videospieljournale extremes Unrecht widerfahren ist. Womit ich übrigens nicht behaupten will, dass ich dies nicht zum Teil nachvollziehen kann, denn
Pathologic macht es den Menschen wirklich nicht leicht, es zu mögen. Wer diesen Thread regelmäßig verfolgt, konnte über die letzten Wochen ja an meinem Beispiel miterleben, wie langsam und gegen welche Widerstände sich hier eine Begeisterung aufbauen kann. Welches deutsche Spielemagazin nimmt sich schon die notwendige Zeit, um für ein verqueres Spiel aus Russland einen Redakteur für mindestens eine volle Arbeitswoche abzustellen? Eben.
Da ich diese Zeit hatte und auch hier im Thread niemand auf die geschriebenen Zeilen achtet, am Anfang einige Vorbemerkungen und einleitende Gedanken.
Zunächst einmal handelt es sich bei den folgenden Ausführungen um keine Review im klassischen Sinn. Wer sich einfach nur für meine kompakt gefasste Meinung zum Spiel interessiert, den vertröste ich hiermit auf meinen noch ausstehenden 4p-Lesertest zu
Pathologic, den ich im Anschluss an diesen mehrteiligen Threadbeitrag gesondert verfassen werde. Ganz ähnlich, wie ich auch bei
You are empty verfahren bin. Als dritten Schritt wird es ebenfalls analog zum Shooter von MandelArtPlains eine überarbeitete Fassung dieses Threadeintrags inklusive Screenshots auf meiner Homepage geben, deren Adresse unten in meiner Signatur zu finden ist.
Wer allerdings gern jetzt schon eine ausgewogen argumentierende, faire Review zu
Pathologic in deutscher Sprache – auch als zweite Meinung zu meinem Geschreibe hier – lesen möchte, dem empfehle ich hiermit sehr die Besprechung von jan auf yiya.de:
http://yiya.de/reviews/p/path0101.shtml
Es ist die einzige mir bekannte deutsche Review zum Spiel, die kein gnadenloser Verriss ist (wie stellvertretend für viele andere auch Benjamins Besprechung auf 4p). Überhaupt ist yiya.de eine der wenigen deutschen Videospielseiten, auf der ich das Gefühl habe, dass osteuropäischen Produktionen nicht von vornherein mit einer gewissen Hybris der Überlegenheit und deutsch-deutschen „Wessihaftigkeit“ begegnet wird. Zu diesem Punkt wird hier später noch einiges zu sagen sein. Schließlich ist der Text auf yiya.de auch deswegen sehr interessant, weil in ihm ebenfalls
Twin Peaks als Vergleich herangezogen wird. Ohne zuviel vorwegzunehmen: ein meiner Meinung nach zentraler Punkt.
Pathologic ist die russische Antwort auf
Twin Peaks. Minus dessen Humor (was schade ist).
Zweitens bleibt festzuhalten:
Pathologic ist kein Shooter. Man spielt es aus der Ego-Perspektive und man kann in ihm Stich- und Schusswaffen benutzen. Aber es ist kein Shooter. Überhaupt fällt die Genrezuordnung dieses Spiels schwer. Neben den Shooter-Elementen finden sich noch solche aus dem Survival Horror-Genre. Aber am stärksten sind sicherlich die Elemente aus 3D-Adventure und RPG. Erstem verdankt es die Dialog“rätsel“ und einige inventarbasierte Aufgabenstellungen. Zweitem die Queststruktur und das Ressourcenmanagement.
Pathologic ist also eines dieser Hybrid-Dinger, wie sie immer mal wieder unnahbar und mit finsterem Gesicht in der Videospiellandschaft herumzustehen pflegen.
Drittens möchte ich vorweg schicken: in vielen Spielerforen wird bekanntlich immer wieder emotional darüber gestritten, ob Videospiele Kunst sein sollen, dürfen, müssen oder ob nichts schlimmer wäre als das.
Pathologic, das möchte ich hier so salopp einmal gesagt haben, wird auf manchen einfach nur wie arrogante, schlimme Kunstkacke wirken. Als Konzept interessant. Als Spiel ungenießbar und eine Zumutung. Man kann das so sehen. Ich verdamme niemanden, der das so empfindet. Im Zweifelsfall hier ein Interview mit den Machern des Spiels:
http://www.rockpapershotgun.com/2009/02 ... ick-lodge/
Zu abgehoben? Zu kopfig und elitär? Ich verstehe das. Da ist die Tür.
2005 tritt das bis dato unbekannte Moskauer Studio Ice Pick Lodge mit dem Spiel
Мор: Утопиа (Mor: Utopia) an die Öffentlichkeit. Der Titel wird in der Heimat mit Preisen überhäuft und zum wichtigsten PC-Spiel der Saison. Publisher ist Buka, das uns unter dem späteren Namen 1C Company bereits als Publisher von
You are empty begegnet ist. 2006 erfolgt dann unter dem etwas ungelenken Namen
Pathologic der internationale Release, den in Deutschland Frogster übernimmt (die Übersetzung des Originaltitels lautet wörtlich „Die Pest: Utopia“). Ein Debakel. Die Kritiken sind verheerend, der Preis des Spiels fällt im Zeitraffer auf Ramschniveau, und es endet bald als Gratis-CD-Beilage zu Videospielmagazinen – die Form, in der man es heute noch auf Amazon für Centbeträge erwerben kann (ich hatte allerdings Glück und konnte noch die originale Retail-Version mit Pappschuber und Handbuch ergattern). Auf dem englischsprachigen Markt ist die Situation interessanterweise etwas anders. Zwar hielt sich auch hier der finanzielle Erfolg in engen Grenzen und die englische Übersetzung geriet noch um einiges katastrophaler als die deutsche. Aber die Kritiken waren weit weniger vernichtend und bis heute existiert ein treues Netzwerk von Liebhabern des Titels. Zur Illustration hier die bis heute maßgebende internationale Besprechung des Spiels auf Rock Paper Shotgun (Vorsicht! Es handelt sich um einen Meta-Text. Zahllose Spoiler!):
http://www.rockpapershotgun.com/2008/04 ... -the-body/
http://www.rockpapershotgun.com/2008/04 ... -the-mind/
http://www.rockpapershotgun.com/2008/04 ... -the-soul/
Spoiler ist dann auch ein wichtiges Stichwort: es ist schwer eine lobende Besprechung zu
Pathologic zu schreiben, ohne zu spoilern. Denn der Grund dafür, diesem Spiel eine Chance zu geben, ist nicht das Gameplay. Das Gameplay von
Pathologic wirkt über lange Strecken einfach wie eine Zumutung und später dann wie ein notwendiges Übel. Ich bin mir noch beim Schreiben dieser Zeilen nicht sicher, ob ich in über hundert Spielstunden jemals so etwas wie Spielspaß empfunden habe. Genugtuung, ja, das schon. Auch Stolz auf meine Leistung als Spieler. Aber Spaß? Nein, soweit würde ich selbst unter Berücksichtigung all des Masochismus, zu dessen Aufbringung ich fähig bin, nicht gehen, Spielspaß im herkömmlichen Sinn hatte ich in
Pathologic keinen. Was ich also in den folgenden zwei Teilen meiner Besprechung versuchen werde, ist, Euch von der Einzigartigkeit der Story dieses Spiels zu erzählen, ohne ihm die Spannung zu rauben, die sich aus ihr – und fast ausschließlich nur aus ihr – ergibt.
Darum sei hier zum Ausklang für diesmal nur das Folgende festgehalten: Ich kenne neben
Pathologic nur ein einziges Spiel, das von der Tiefe seiner narrativen Struktur her, von der unglaublichen Vielzahl seiner Deutungszugänge her, das mit Bezug auf seine allegorisch hochintelligente Struktur dem Erstling von Ice Pick Lodge das Wasser reichen kann:
The Path von Tale of Tales. Wenn ich all die Jahre seit 1990, die ich meinem Videospielhobby gewidmet habe, Revue passieren lasse, fällt mir höchstens noch
Silent Hill 2 ein, das bei mir einen ähnlich starken Eindruck hinterlassen konnte. Bekanntlich bin ich ein großer Fan der Fähigkeiten von Ken Levine als Geschichtenerzähler. Gegen
Pathologic ist das gesamte erzählerische Universum von Ken Levine banaler Kinderkram. Sorry, Shodan, sorry Garett, sorry Andrew Ryan. Tut mir leid.
Weiter geht es hier im Laufe der nächsten Woche. Bis dahin allen viel Spaß beim Spielen und allem sonstigen. Gute Nacht.