Die Kritik an der Motivation des Spielers

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HerrRosa
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Die Kritik an der Motivation des Spielers

Beitrag von HerrRosa »

Mahlzeit.

Jeder kennt es, Eigeninitiative oder der Drang zum Fortschritt stellten, vor allem in den frühen Tagen des Mediums, meist die Hauptmotivation dar.
Ganz einfach gefragt. Wer hat sich schon durch die Level eines Marios gebissen, um wirklich Peach zu retten oder sich durch Monsterhorden gekloppt, um am Ende Diablo selbst entgegenzutreten?
So war vor der breit angelegten Einführung von Geschichten oder den zumeist plumpen Versuchen so was ähnliches wie Dramaturgie einzuführen meist die Herausforderung oder die Jagd nach dem Highscore der Hauptantrieb des Spielers.

Angesichts der Entwicklung war es also nur logisch, dass die Kreativen des Mediums auf die „brillante“ Idee kamen, den Spielern diesen primitiven Eigenantrieb um die Ohren zu hauen, auch wenn dieser dissonant zur Logik oder zum Drama steht oder geradewegs in dieses führt.

Um diese Spiele geht es hier. Am Beispiel der folgenden vier Titel werde ich meinen Standpunkt verdeutlichen und die verschiedenen Herangehensweisen aufzeigen und somit dieses gewollte Paradox beleuchten, ob, oder wie das gelingt ist dabei vor allem auch vom Konsumenten abhängig und unterliegt oft stark subjektiven Faktoren.

Die einzelnen Abschnitte werden teils deftige Spoiler enthalten, dabei aber auf Querverweise verzichten und können somit ohne jegliche Gefahr separat gelesen werden.

Diese 4,5 Titel sind:
Bioshock - Der Effektive (System Shock 2)
Shadow of the Colossus – Der Pathetische
Spec Ops the Line – Der Subversive
The Witcher 2 – Der Revidierende


Bioshock (System Shock2). Achtung, Spoiler sind wahrscheinlich, letzte Warnung!

Eins Vorweg, da ich 1994 noch keinen spielfähigen PC besaß, kam ich seinerzeit nicht in den Genuss den Erstling frisch zu erleben, wodurch sich seine Wirkung beim Nachholen, und nach dem ich den 2. schon durch hatte, nie entfalten konnte. Also entschuldige ich mich hiermit bei den Nostalgikern, falls ich dieser Perle nicht die angebrachte Aufmerksam zukommen lasse, die sie vielleicht verdient.

Bioshock schafft es auf einmalig eindringliche Weise die Motivation des Spielers zu hinterfragen.
Dabei gelingt es dem Titel die Kontrolle dem Spieler bis auf ein Ausnahme zu lassen, nämlich die Tötung Ryans.

Die Prämisse:
Man kommt durch unbeeinflussbare Umstände in Rapture an, ohne einen Hauch von Ahnung wie man mit der Situation umgehen soll. Somit ergibt sich für den Spieler die erste Motivation komplett aus Eigenantrieb, nämlich die Neugierde sprich Erkundung.
Nach und nach begreift der Spieler die Umstände und macht sich mit der Umgebung und den Mechanismen vertraut und das Erkunden weicht langsam der Handlung, die da heißt: Entkommen und Atlas Familie Retten.
Als das U-Boot, welches beides bot, explodiert und alle Wege scheinbar nur noch über den Antagonisten führen, weisen beide, Handlung und Dramaturgie richtung Ryan.
Nun kommt der genialste Kniff dem Thema entsprechend, der mir je untergekommen ist (ja auch System Shock 2 wird hier abgewatscht). Die Phrase „wärst du so freundlich“ oder im O-Ton „would you kindly“ wird eingeführt. Plötzlich wird das ganze Streben des Protagonist und damit indirekt des Spielers hinterfragt. Die Phrase, die nach Handlung als genetischer Auslöser programmiert wurde symbolisiert dabei lediglich die einfache Strickung des Spielers, welcher, so berechenbar wie immer, den simpelsten Mechanismen des Mediums erlag. Dabei spielt es keine Rolle, ob man den Twist um Atlas schon kommen sah, oder nicht. Die Handlungen waren dabei äquivalent.
Hätte man danach den Abspann laufen lassen, so hätte man auch den Stumpfsinn des Spielers als Ausschlag zum Untergang Raptures lesen können, leider fehlten dazu dann doch die Eier. Bis auf die Tötung Ryans war ich derjenige welche und sonst niemand. Zwar gab Fontaine die Kondition vor, die den Protagonisten lenkten, jedoch war es das Spiel, das mich auf die gleiche weise lenkte.

(System Shock 2)
Viele werden jetzt jauchzen und vom Großvater faseln, der den Plot schon gute 8 Jahre vorher vorweg nahm. Doch, so einfach sehe ich das nicht. Es stimmt, der Plot verläuft nach fast dem selben Schema, jedoch mit einigen kleinen, aber nicht zu vernachlässigenden, Unterschieden.
Zu erst einmal war der Verrat Shodans in keinem Szenario als Twist angelegt. Jeder, der auch nur halbwegs den Audiologs lauschte, wusste wie die Sache enden würde. Der Hacker missbrauchte Shodan als Werkzeug genauso wie Shodan das mit ihm tat. Sie brauchte einen Avatar und er die Implantate um zu überleben. Durch diese Gegenseitige Abhängigkeit ergibt sich eine ganz andere Konsequenz in der Handlung. Shodan der Teufel der den Beelzebub austreiben sollte, nicht wie in Bioshock in dem der Protagonist den Plänen des Puppenspielers und damit dem Spiel erlag.


Shadow of the Colossus. Achtung, Spoiler sind wahrscheinlich, letzte Warnung!

SotC ist ein zweischneidiges Schwert. Die Dissonanz ist hier wahrscheinlich am stärksten ausgeprägt, da meine Handlungen und die Handlung des Spiels komplett konträr verlaufen.
Generell wird dem Spieler nach erreichen eines Ziels eine Belohnung zu Teil, um diesen weiter zu Motivieren. Jedoch nicht so bei SotC.

Die Prämisse:
Der „Held“ reitet durch ein menschenleeres Land, mit einer verletzten Frau im Gepäck, einem alten Tempel entgegen. Dort legt er sie auf einen Altar und fordert die Heilung dieser, ungeachtet der möglichen Konsequenzen oder Kosten. Eine Stimme bietet im das Gewünschte, wenn er im Gegenzug 16 Kolosse tötet.

Als gestandener Videospieler nicht einfacher als das. So machen ich mich auf den Weg die quest zu vollführen. Just in dem Moment, in dem Koloss nach langen Ringen und anmutig inszeniertem Fall vor mir liegt, beschleicht mich ein leichtes Gefühl der Schuld, denn des Triumphs.
Mhh, das kommt unerwartet, so sollte das aber nicht sein.
Mit einem Gefühl des Unbehagens mache ich weiter, schließlich interessiert mich die unbekannte Frau einen Kehricht und der Fall des Gegners erfüllt mich eigentlich auch nicht mit Wohlbehagen.
Warum mache ich dann weiter? In diesem Moment erfüllt SotC das aufgeworfene Thema perfekt.
Meine Motivation liegt im kompletten Widerspruch zur Handlung, was das Spiel auch am Ende ziemlich Stumpf quittiert und sich dabei für intelligenter hält als es eigentlich ist (Sprichwort Baby).
Dies bricht der Aussage auch schon ziemlich schnell das Genick. So ergreifend der erste und die nächsten fallenden Kolosse auch sind, das ganze verliert schnell seine Wirkung.
Die Musik beim Fall wirkt aufgesetzt, die Kniffe ala sterbenden Pferd werden immer manipulativer und lassen somit die Fassade zu leicht bröckeln.
SotC hätte leicht neben Bioshock stehen können, wenn der Vorwurf der zu offenkundigen emotionalen Manipulation nicht so beharrlich im Raum stehen würde.


Spec Ops the Line. Achtung, Spoiler sind wahrscheinlich, letzte Warnung!

Spec Ops spielt ziemlich offensichtlich mit einer Idee, auch bekannt als Heart of Darkness.
Durch die Handlungen, die man vornimmt gewinnt das Drama erst an Lauf und steigert sich bis ins Finale unaufhörlich, wobei immer weniger klar wird, wie weit das ganze einer Spirale gleicht und ob meine Entscheidungen eigentlich noch an Bedeutungen haben oder ich nur ein Spielball der Umstände bin oder die Umstände mir oblagen bzw. obliegen.

Diesen Strudel lässt einen Spec Ops unerbittlich spüren, was eine angenehme Abwechslung zum Hurra Patriotismus eine CoD ist, im welchen gar nichts hinterfragt wird.
Die Entscheidungen die ich treffen muss sind dabei stets tief grau und folgern meist in weiterem Grau und hiermit offenbart sich auch der größte Makel. So gelungen der letzte Akt (sie sind hier, weil sich sich als was fühlen wollten, was sie nicht sind“) auch ist und dabei leicht mit Apokalypse Now gleichziehen kann, so haftet den Entscheidungen eine Beliebigkeit an, die auf der Ebene der Handlung, meine Taten langsam weit weniger wichtig erscheinen lassen als zu Beginn.
Das geht leider so weit, dass die dramatischen Höhepunkte, welche den Strudel befeuern, oft ohne mein Zutun auskommen. Als Beispiel sei hier der Einsatz des weißen Phosphor genannt oder der Escort der Wassertanks. Man ahnt als Spieler das die Sache nicht gut endet, aber die Entscheidung obliegt nicht mir, was das Schuldgefühl und somit die Dissonanz ziemlich torpediert, wohingegen die Entscheidungen, die ich treffe meist weit weniger Einfluss haben.

Somit ist Spec Ops in Ansätzen das erste Antikriegsspiel, muss sich aber den Vorwurf der fehlenden Einflussnahme gefallen lassen und disqualifiziert es dadurch in der B-Note dem Thema entsprechend.
Meine Zutun zum Geschehen streift die Grenze zum Schuldgefühl nur marginal.


The Witcher 2. Achtung, Spoiler sind wahrscheinlich, letzte Warnung!

Der Hexer steht hier als Sonderling. Anders als bei den vorher Erwähnten, schafft es CDprojekt die Dissonanz meiner Handlungen mit der Handlung aufzubrechen und das in einer Gründlichkeit, die mir bisher kein anderes Spiel dargeboten hat.
The Witcher 2 bietet einem viele handlungsgeführte Motivationsstufen. Sei es Rache, Rettung oder Aufschluss. Was the Witcher 2 jedoch im Dritten Akt abfeuert ist der Wahnsinn. Da quält man sich durch einen Sumpf aus Ambivalenz und immer zu falschen Entscheidungen, um am Ende eine Wahl angeboten zu bekommen. Richtig, eine WAHL. Will ich die „Damsel“ eigentlich noch retten oder interessieren mich die Intrigen Nilfgards überhaupt? Dabei ergibt sich, meinen vorhergehenden Entscheidungen entsprechend, nie ein ganzes Bild der Umstände, wodurch sich meine Motivation konvergent zu Handlung auch wandeln kann. So geht interaktives Erzählen.
Selbst der offensichtliche Antagonist, muss nicht als dieser angesehen werden, aber auch nur, wenn ich das WILL.


Falls noch weiter gute Beispiele zum Thema bestehen, zögert nicht. Noch frohes Diskutieren.
*kein Anspruch auf Vollständigkeit

johndoe702031
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Re: Die Kritik an der Motivation des Spielers

Beitrag von johndoe702031 »

Wenn's darum geht, dass einem ein Spiel die eigenen Spieleraktionen auf der Gameplayebene (inkl. kompetitiv angelegter "natürlicher" Fortschrittsmotivation) sozusagen mittels der vom Spiel bestimmten "künstlichen" Handlungsebene wie einen Spiegel vorhält und damit bewusst Brüche erzeugt, dann ist noch unbedingt Braid zu nennen. Selten hat man diese Dissonanz so schön und mit geöffneter Kinnlade zu spüren bekommen. Und selten ist das klassische "Damsel in Distress"-Konzept, auf dessen Glatteis man hier geschickt geführt wurde, einem so schallend um die Ohren gepfeffert worden wie hier. Für mich ein Paradebeispiel für das Spielen mit dem Spieler.
Spoiler
Show
Aus gut wird böse, aus dem Spieler/Retter das eigentliche Monstrum, aus dem Monstrum der eigentliche Retter, die Zukunft entpuppt sich als Vergangenheit, der sicher geglaubte Fortschritt als Rückschritt, und in all dem manipulativen Gefüge bleibt der "schlimme Fehler" des Protagonisten, den er unbedingt ungeschehen machen will, doch auf ewig unrevidierbar. Das fand ich schon stark. Den Interpretationsmöglichkeiten und "Lehren" sind, auch dank der Atombomben-Anspielung, kaum Grenzen gesetzt. Ein Spiel, das imho weit über sich selbst hinaus wirkt.

Ist natürlich auch nur subjektiv. Ich kenne auch Leute, die damit herzlich wenig anfangen konnten
kamm28
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Re: Die Kritik an der Motivation des Spielers

Beitrag von kamm28 »

In dieser Hinsicht vergleichbar mit Bioshock hat mich die Half Life 2-Mod "The Stanley Parable" geflasht; für mich eine der beeindruckendsten Spielerfahrungen der letzten Jahre. Ein Durchlauf dauert nur etwa 10 bis 15 Minuten, allerdings wird die Geschichte, je nachdem wie man sich entscheidet, immer anders erzählt. Sechs oder sieben verschiedene Versionen habe ich gesehen, und es sind bestimmt noch weitere möglich.

Ich möchte nicht zu viel spoilern, das würde die Erfahrung einschränken. Es geht um den Mitarbeiter eines Unternehmens, Stanley, der jeden Tag die Anweisungen auf einem Bildschirm befolgt, bis eines Tages keine weiteren mehr kommen. Vereinfacht beschrieben handelt es sich um eine Parabel über Fremd- und Selbstbestimmung, Abhängigkeit und Freiheit. Der Trick an der Sache ist, dass man diese an sich schon nette Geschichte wiederum sabotieren kann, sozusagen eine Unterlaufung der eigenen Selbstbestimmung. Dadurch wird das Ganze zu einer Betrachtung über Narration, Interaktivität und letztendlich dem Spielerverhalten. Wie gesagt, ich möchte nicht zu viel verraten, deshalb höchstens noch als Appetizer ein paar Stichworte: Brazil, Inception, Radiohead, Half Life 2 (anders, als ihr denkt).

Unbedingte Empfehlung, gerade für diejenigen, die sich für das Thema dieses Threads interessieren! In der Version 1.4 inzwischen auch mit deutschen Untertiteln, die allerdings kaum nötig sein dürften. Die Sprecher sind sehr gut verständlich und außerdem wahnsinnig gut.
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